Situation

11_MES2008004G0407087_750paCalais – was nochmal?

In der französischen Stadt Calais, am Ärmelkanal, halten sich seit einigen Jahren eine dreistellige Zahl von „Sans Papiers“ (Menschen ohne gültigen Pass) auf. Sie versuchen meist nach England zu gelangen, wo sie auf bessere Lebensbedingungen hoffen, als die, vor denen sie aus ihren Heimatländern geflohen sind. Die englische und die französische Regierung bezeichnen diese Bewegung als „illegal“ und schaffen es nicht, sie unter Kontrolle zu bringen. Die Migrant_innen versuchen mit LKWs auf die Fähre oder in den Zug, der durch den Tunnel unter dem Ärmelkanal fährt, zu gelangen. Doch die Grenze zwischen Frankreich und England ist extrem streng bewacht. Die meisten von ihnen werden von der Polizei entdeckt, vor allem bei den verschiedenen Kontrollposten, wo geprüft wird, ob sich jemand im Inneren eines Laderaums versteckt. Deshalb halten sich viele der Migrant_innen monatelang in Calais auf, leben dort unter härtesten Bedingungen und lassen sich jede Nacht auf’s Neue auf dieses riskante Unterfangen ein.

Als Teil eines internationalen Netzwerks verschiedener aktivistischer Gruppen fahren wir vom 21. bis 28. August 2014 nach Frankreich / Calais in das Flüchtlingslager um vor Ort zu kochen.

Aktuelles in Calais

Die Situation in Calais wird zunehmend angespannter. Nach Angaben der Lokalpresse waren letzten Winter noch ca. 500 Menschen auf den Straßen von Calais, jetzt sind es in Calais und Umgebung rund 1200. Die steigende Zahl von Geflüchteten, die zunehmende Repression und deren auswegslose Situation führt zu immer verzweifelteren Versuchen, den Ärmelkanal zu überqueren um nach England zu gelangen. Allein in der letzten Woche wurden 1000 Menschen von der Polizei bei diesem Versuch aufgegriffen. Ein Regionalratsmitglied aus  Nord Pas-de-Calais, Bertrand Péricaud, wandte sich vor kurzem an den französischen Premier mit der Bitte, Verhandlungen mit England aufzunehmen. Er wies darauf hin, dass einigen der Migrant_innen politisches Asyl zustehe.

Hinzu kommt die immer schwierigere Situation in den squats und jungles. Schon am 28. Mai diesen Jahres hatten die cops einige squats geräumt, am 02. Juni 2014 wurden letztlich drei der zentralen Häuser und das SALAM Gelände, auf welchen zu diesem Zeitpunkt mehrere hundert Menschen „lebten“, geräumt. Durch das extrem gewaltsame Vorgehen war es beim dritten Versuch nun möglich, durchzusetzen was bis dahin durch Gegenaktionen verhindert werden konnte. Etwa 600 Geflüchtete sind damit erneut ohne Unterkunft, ca. 200 Menschen wurden in Abschiebehaft genommen.Die Forderungen der Geflüchteten nach Gesprächen und Lösungsvorschlägen wurden ignoriert. Die aktuelle Situation treibt die Menschen in die Wälder an den Stadtgrenzen.
Mit der Vertreibung aus dem Stadtzentrum werden die Menschen einmal mehr zu Unsichtbaren gemacht und die Tatsachen negiert. Stattdessen versucht Natasha Bouchart, die Bürgermeisterin der Stadt, Verordnungen zur schnellen Räumung neu besetzter Häuser zu realisieren. Ferner wird dort explizit gegen „Herumtreiber_innen“ und deren Versammlung an öffentlichen Orten vorgegangen.
Am 30.06. kam es im Zuge einer Demonstration gegen die Verordnung zur Besetzung eines neuen Geländes, einer ehemaligen Metallrecyclingfabrik. Es beherbergt derzeit ca. 300 Menschen. Im Innenhof stehen Zelte und „Ärzte ohne Grenzen“ hat dort medizinische und sanitäre Grundversorgung installiert. Obgleich es keinerlei Pläne für das bisher leerstehende Gebäude gibt, fordert der Besitzer eine schnelle Räumung und ist zu keinerlei Gesprächen bereit. Während der neu entstandene Schutzraum durch immer mehr Menschen genutzt wird, wurde am 24. Juli 2014 gerichtlich beschlossen, dass das Haus binnen 10 Tagen geräumt werden muss.

Im Allgemeinen ist zu beobachten, dass zunehmend Minderjährige, Frauen und Kinder nach Calais kommen. Auch im letzten Jahr sind mehrere Menschen beim Versuch auf die Britische Insel zu gelangen gestorben. Das Blog calaismigrantsolidarity.wordpress.com berrichtete Mitte Juni dass junge Männer am Hafen vom „Sicherheitspersonal“ angeschossen wurden. Zu dieser pekären Situation kommen die rechten Umtriebe in Calais. Unter dem Namen „Sauvons Calais“ (Retten wir Calais) bildete sich Anfang des Jahres eine „Bürgerinitiative“, deren Wortführer Kevin Reche Verbindungen zum Front National unterhält und nach eigenen Angaben bald Teil der „Génération Identitaire“ sein wird, einer politischen, neofaschistischen Bewegung mit dem Ansinnen „etwas gegen die Flut von Migranten zu unternehmen“. Auf ihrer homepage bezeichnet sich die Gruppe als die „Barrikade, auf der die Jugend sich erhebt um ihre Identität zu beschützen“.
Im Februar diesen Jahres war es wiederholt zu Angriffen auf Geflüchtete und Aktivist_innen gekommen, „Sauvons Calais“ hatte eine Demonstration vor dem squat veranstaltet, das squat war mit Molotov-Cocktails und Steinen attackiert worden. Sauvons Calais behauptet von sich selbst, keiner Partei anzugehören, sondern nur das „Volk“ zu vertreten.