Black Wok kocht für die Geflüchteten in Calais – ein Rückblick
Schon im Sommer 2012 hat die Dresdner Küfa1 „Black Wok“ für ca. eine Woche in Calais gekocht. Auch dieses Jahr gab es wieder einen Aufruf, in der Stadt am Ärmelkanal für warmes Mittagessen zu sorgen. Nachdem lange unklar blieb, ob genügend Interessierte und ausreichend Finanzmittel zusammen kommen würden, bildete sich dann doch eine Gruppe aus Mitgliedern der Küfa und Externen aus Dresden. Einige von uns hatten schon Erfahrung mit größeren Koch-Aktionen, für die meisten war es jedoch die erste Solidaritätsaktion dieser Art. Zusammen haben wir Spenden gesammelt, die Fahrt geplant, uns mit anderen Aktivist_innen koordiniert und waren letztendlich vom 22. – 29. August 2014 in Calais.
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What’s up Calais? Die Situation vor Ort
Die französische Stadt Calais befindet sich unweit der schmalsten Stelle des Ärmelkanals: Weniger als 50 km entfernt lässt sich die englische Stadt Dover am Horizont erahnen. In der Hoffnung auf eine bessere Lebenssituation in Großbritannien versuchen Migrant_innen in Calais, auf LKWs versteckt auf eine Fähre zu gelangen. Einige versuchen die unentdeckte Überfahrt mit dem Zug durch den Tunnel, manche versuchen in ihrer Verzweiflung zu schwimmen. Doch die Grenze zwischen Frankreich und England ist extrem streng bewacht. Die meisten Flüchtenden werden von der Polizei entdeckt, meistens im Rahmen von immer schärferen Prüfungen der Frachträume, bei denen Hunde, Herzschlagdetektoren, LKW-Röntgengeräte und Atemluftscanner zum Einsatz kommen. Aus diesem Grund halten sich viele Migrant_innen monatelang in Calais auf, leben dort unter härtesten Bedingungen und lassen sich jede Nacht aufs Neue auf riskante Unterfangen ein. Welche Risiken die Fluchtversuche bergen zeigen die unzähligen Verletzten und 12 bekannte Todesfälle allein in den ersten neun Monaten 2014.2
Ein kurzer Rückblick
2002 wurde das Rote-Kreuz-Camp im Dorf Sangatte bei Calais geschlossen, welches seit 1999 als offenes Auffanglager für Migrant_innen diente. Das Lager war mit zeitweise mehr als 1800 Menschen permanent überbelegt gewesen. Von hier versuchten tausende Migrant_innen, durch den Eurotunnel nach Großbritannien zu gelangen. Allein im 1. Halbjahr 2001 wurden 18.500 Menschen abgefangen. Wegen der katastrophalen humanitären Zustände wurde Sangatte zum Symbol der Entmenschlichung duch das europäische Grenzregieme. Zwischen Frankreich und England sorgte das Camp für gehörige Spannungen, ehe der damalige französische Innenminister Nicolas Sarkozy im Rahmen seiner „Tolérance zéro“-Agenda die Schließung anordnete. Großbritannien verschärfte im Gegenzug das britische Asylgesetz. „Great Britain will stop to be so attractive“ kommentierte der damalige britische Innenminister David Blunkett das Abkommen. Auch Frankreich intensivierte die Grenzkontrollen.
Sarkozys Nachfolger Éric Besson führte die restriktive Politik weiter. Inoffizielle und behelfsmäßige „Jungles“ 3, welche infolge der Schließung von Sangatte in den Dünen um Calais entstanden, wurden nicht geduldet, die Arbeit von Hilfsorganisationen erschwert und unterbunden. 2009 räumte die Polizei den größten Jungle (Pashtun Jungle), in dem zeitweise über tausend Migrant_innen aus Afghanistan lebten. Das von Besson angekündigte „würdevolle Vorgehen“ der Räumung wurde mit mehreren Hundertschaften der CRS4 unter Einsatz von Militär-Fahrzeugen, Hubschraubern und mit gewaltsamem Vorgehen gegen Aktivist_innen, die mit anderen Protestierenden zahlreich eine Kette ums Camp bildeten, durchgezogen. Die Migrant_innen leisteten keinen Widerstand gegen ihre Verhaftung. Ein Teil von ihnen waren noch Kinder, 132 der 278 verhafteten Pashtun waren jünger als 18 Jahre. Viele der Migrant_innen hatten den Jungle schon am Tag vor der angedrohten Räumung verlassen. Die obdachlos gewordenen Menschen waren daraufhin der massiven Polizeirepression noch schutzloser ausgesetzt. Viele Migrant_innen begaben sich ins Landesinnere und lebten in kleineren Jungles entlang der Autobahnen zur Küste. Durch den teilweisen Rückzug aus der für das Migrationsgeschehen zentralen Stadt Calais, rückten die Migrant_innen auch aus dem Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. In den folgenden Jahren wurden mehrere, primär von Migrant_innen aus dem Sudan besetze Industrieruinen, nicht nur geräumt, sondern gleich abgerissen.
Die nächste Welle der Repression folgte 2012, als Calais anlässlich der Olympischen Spiele in London eine „Säuberungskampagne“ durchführte. Die seit Jahren stationierte Einheit der CRS sollte es den Migrant_innen so unbequem wie möglich machen. Auf täglichen, morgendlichen Razzien in den provisorischen Unterkünften der Migrant_innen wurden Decken, Schlafsäcke und Zelte konfisziert oder zerstört; Räume in den besetzten Häusern beispielsweise mit Urin oder Öl unbewohnbar gemacht. Wer sich nicht rechtzeitig davon gemacht hatte, wurde mit ins „Detention Center“ im sechs Kilometer entfernten Coquelles genommen, erkennungsdienstlich registriert und ein paar Stunden oder Tage dort festgehalten. Übrig blieben wieder kleine, auf sich gestellte Gruppen. Jeder Versuch, eine eigene Infrastruktur aufzubauen – und dazu zählen schon Camps, die mehr als 20 bis 30 Menschen beherbergen – wurde entdeckt und zerstört.
Im September 2014 hat Großbritannien Frankreich den 9 Fuß hohen Stahl-Zaun angeboten, der zur Sicherung des NATO-Gipfels vor terroristischen Anschlägen in Wales verwendet wurden und schon damals als „Stalag Luft 12“ in Verruf geraten war5. Außerdem wurden Frankreich 15 Mio.€ zur Verschärfung der Hafen-Kontrolle in Calais zugesagt. Trotz immer schärferer Kontrollen des Hafen-Gebiets bzw. dadurch bedingt steigt die Zahl der in Calais lebenden Migrant_innen bis heute weiter an.
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Die Situation der Geflüchteten in Calais
Zur Zeit halten sich in Calais mehr als 2000 Migrant_innen auf. Sie kommen aus Syrien, dem Südsudan, Somalia, Eritrea, Äthiopien, Libyen, Iran, Afghanistan, dem Irak und anderen Ländern. Viele bewegen sich in kleinen Gruppierungen aus Geflüchteten gleicher Herkunftsländer. Geflüchtete durchleiden auf ihrem Weg nach Frankreich körperliche Strapazen und werden teilweise von und für ihre Familien vorgeschickt. Dies führt letztlich dazu, dass ein Großteil der Migrant_innen männlich und vergleichsweise jung ist. Im Laufe der letzten Jahre hat die Zahl der Frauen und Kinder allerdings zugenommen. Aus unterschiedlichsten Hintergründen kommen die Menschen nach Calais, sodass sie nicht als eine homogene Gruppe verstanden werden können. So ist auch der Umgang der Migrant_innen untereinander von Konflikten geprägt. Das Zusammenleben-Müssen unterschiedlichster Charaktere aus verschiedenen kulturellen Hintergründen, mit verschiedenen Vorstellungen und Gewohnheiten (z.B. Glaube, Essensgewohnheiten, Hygiene, Verständnis von Gemeinschaft, etc.) in höchster Stress- und Notlage stellt eine Zerreißprobe für jede_n Einzelne_n dar.
Die ‚Unterkünfte‘
Das Squat6 ist im Osten der Stadt auf dem Gelände der ehemaligen Chemiefabrik Tioxide gelegen. Das Gelände befindet sich in einer Sackgasse neben anderen Industriebrachen, bereits eine Straße weiter schließen allerdings Wohn- und Geschäftsstraßen an. Eine hohe Mauer umschließt den Hof, eine kahle Betonfläche, welche durch ein einziges Tor zu betreten oder zu verlassen ist. Aufgrund der verseuchten Bausubstanz und gesundheitsschädlichen Ausdünstungen in der Fabrikhalle hielten sich die Menschen im Sommer auch bei Regen weitestgehend draußen oder gedrängt in einem kleinen Nebengebäude auf. Was fehlt sind elementare Dinge, wie Zelte, Isomatten und Schlafsäcke. Als Schlafunterlagen dienen oft Pappen; neben Zelten werden Plastikplanen und Anderes zum Schutz verwendet.
Die hygienische Situation im Squat ist miserabel. Ein einziger Trinkwasserschlauch wird von gut 100 Menschen, die im Squat leben und etwa 300 Menschen, die sich tagsüber dort treffen, geteilt. Es gibt keine Sanitäranlagen, lediglich zwei Dixi-Klos. Im Sommer wurde im Squat teilweise von Aktivistinnen gekocht, auch selbstorganisiertes Kochen aus Lebensmittelspenden fand statt. Trotz angedrohter Räumung seitens der Polizei wird das Squat derzeit von Migrant_innen gehalten. Immer wieder kam es jedoch zu Repressionsmaßnahmen, wie beispielsweise dem Abdrehen der Wasserleitung.
Nach der Schließung des Rote-Kreuz-Camps in Sangatte waren die Migrant_innen 2002 gezwungen sich in den Jungles selbst zu versorgen. Die Jungles liegen im Hafengebiet, etwa im Wald, auf einem alten Sportplatz mit Halle versteckt. Es gibt keinen Wasserzugang. Nachdem es Aktivist_innen und Migrant_innen gelungen war, einige Hydranten, welche für Feuerwehr-Zwecke im Gebiet installiert sind, zu öffnen, ließ der Stadtrat die Hydranten verschließen, in einem Fall sogar zubetonieren. Die Jungles verfügen über keine Toiletten, die Umgebung verschmutzt aufgrund der nicht vorhandenen Müllentsorgung. Vor allem im Winter sind die Zustände in den Jungles lebensbedrohlich. Im Sommer gab es drei große Jungles, benannt nach den größten ethnischen Gruppen der Bewohner_innen, mit etwa 500 (Eritrean/African Jungle), 700 (Afghan Jungle) und 200 (Sudanese Jungle) Menschen. Die Menschen dort sind ebenso den polizeilichen Repressionen ausgesetzt. Im Rahmen von brutalen Razzien durch die Jungles wurden unter anderem Zelte und Schlafsäcke zerstört oder durch Pfefferspray unbenutzbar gemacht. Eine weitere Abschreckungs-Aktion der Polizei ist der frühmorgendliche Terror mit Sirenen. Die Jungles sind für die Bevölkerung quasi unsichtbar, was Gewalt im Verborgenen ermöglicht. Intern wird um die knappen Ressourcen oder darum gekämpft, welche Gruppe die Flucht auf welchen LKW-Parkplätzen versuchen darf. Dennoch unterstützen und schützen sich die Gemeinschaften. Menschen kochen, spielen, singen gemeinsam und tauschen ihre Erfahrungen über die versuchten Flucht-Strategien aus. Im African Jungle haben einige Frauen ein improvisiertes Restaurant eröffnet. Im Sudanese Jungle hat sich eine Infrastruktur mit kleinen Zusammenschlüssen und Vertreter_innen etabliert, die die Essensverteilung zu einer gemeinsamen Sache machte.
Medizinische Versorgung
Wie in vielen französischen Städten existiert in Calais eine PASS Klinik7 , welche auf Drängen von Médicines du Monde und Médicines Sans Frontières8 im Dezember 2006 eröffnet wurde. PASS Kliniken sind staatliche Einrichtungen, die eine kostenlose medizinische Grundversorgung für bedürftige Menschen, neben Migrant_innen hauptsächlich Obdachlose, bereitstellen sollen. Die PASS Klinik in Calais wurde mittlerweile in das neue Krankenhaus außerhalb der Stadt verlegt, was die Erreichbarkeit für die Migrant_innen erschwert. Viele Migrant_innen haben außerdem Angst, in die PASS-Klinik zu fahren, da sie befürchten, identifiziert zu werden. Auch von schlechter medizinischer Versorgung wurde von Patient_innen berichtet. Die PASS Klinik verfügt über zwei Duschen. sechs weitere Duschen werden von Secours Catholique9 gestellt. Sie befinden sich außerhalb der Stadt, sodass die Migrant_innen zum Duschen im Auto abgeholt werden. Im September wurden die Duschkabinen bei einem Neonazi-Angriff zerstört. Zudem haben die Médecins du Monde seit diesem Jahr ein (!) Wohnmobil, mit dem sie in die verschiedenen Jungles fahren, um die Menschen duschen zu lassen. Gemeinsam mit den vier Dixis im Squat und den Jungles ist dies alles, was an sanitären Einrichtungen für 2500 Menschen zur Verfügung steht. Die größte Leerstelle der medizinischen Versorgung ist neben dem allgemeinen Personalmangel das Fehlen einer psychologischen Betreuung. Es gibt keine Anlaufstelle für die Personen, welche traumatisiert durch die Erlebnisse auf ihrer Flucht und die Situation in Calais, professionelle Hilfe benötigen.
Versorgung mit Essen
Die Versorgung der Migrant_innen mit Essen ist absolut ungenügend. Viele Menschen leiden Hunger und das Beschaffen von Nahrung stellt, neben den täglichen Fluchtversuchen, jeden Tag aufs Neue eine existenzielle Aufgabe dar. Ehrenamtliche Organisationen leisten einen wichtigen Beitrag, der jedoch nicht ausreicht, den Hunger Aller zu stillen. Täglich werden von der NGO Salam10 etwa 500 Portionen warmes Abendessen ausgeteilt, für das die Migrant_innen schon ein bis zwei Stunden früher auf dem Gelände Schlange stehen. Um das Angebot anzunehmen, müssen die Migrant_innen lange Wege durch die Stadt auf sich nehmen, während derer sie den relativen Schutz ihrer Verstecke aufgeben müssen, um unter den Augen der Polizei auf dem zentrumsnahen Gelände zu essen. Der Verein Reveil Voyageur11 gibt dreimal pro Woche Frühstück zwischen dem African und dem Afghan Jungle aus. Auch Lebensmittelspenden von Emmaüs12 stehen zur Verfügung. Mangels Fahrzeugen, Helfer_innen und Ausgabestellen sowie den inkonstanten Essensspenden ist jedoch auch hier nur wenig Planbarkeit möglich.
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Who’s who? Akteur_innen in Calais
Aktivist_innen
2009 wurde aus einer Initiative von Aktivist_innen aus Frankreich, Belgien und England heraus ein NoBorder-Camp in Calais organisiert. Dieses war schon damals darauf angelegt, die Akteur_innen vor Ort zu kritisieren, also unter anderem der Ignoranz der Stadt anzuprangern, eine generelle Kritik an der EU-Politik zu formulieren und Anknüpfungs- und Berührungspunkte zu den Migrant_innen vor Ort herzustellen. Aus diesem Camp heraus fand sich ein Kreis an Aktivist_innen, der sich bis heute lose organisiert vor Ort engagiert. Die meisten von ihnen kommen allerdings nicht aus Calais, leben in anderen Städten in Frankreich, Belgien oder England und sind so nur in meist unregelmäßigen Abständen vor Ort. Konstant sind es nur drei bis vier Personen, die sich explizit der NoBorder-Struktur zugehörig fühlen. Abgesehen von der grundsätzlich prekären Situation, macht sich die Unregelmäßigkeit der (politischen) Arbeit vor Ort bemerkbar. Selbst internationale Aktivis_innen, welche immer wieder mehrere Wochen in Calais verbringen, wissen bei ihrer Ankunft oft nicht, wer vor Ort ist und welche Themen fokussiert werden. Die Aktivist_innen versuchen alles zu leisten: Empowering der Flüchtlinge, das Organisieren neuer Behelfsunterkünfte, Rechtshilfe, medizinische Versorgung, Versorgung, Essenszubereitung und -versorgung sowie emotionale Auffangarbeit. Die konstanten Versuchen neue Gebäude zu besetzen und dauerhaft zu Verfügung zu stellen sind ebenso ihre Arbeit. Zugleich halten sie ein kleines Office, das als Rückzugsraum und Arbeitsplatz genutzt wird. Eine der wichtigsten Quellen zur Situation in Calais ist die Seite calaismigrantsolidarity.wordpress.com.
Kurz nach unserer Abreise fand ein weiteres Treffen von Akteur_innen des NoBorder-Netzwerks statt, das sich explizit der oben genannten Probleme widmen sollte.
Stadt
Die Stadtpolitik mit der Bürgermeisterin Natacha Bourchert an ihrer Spitze zeichnet sich nicht gerade durch Solidarität und Hilfsbereitschaft den Geflüchteten gegenüber aus. Bourchert äußerst sich vor allem, wenn es darum, geht Migrant_innen zu denunzieren und deren Auftreten in der Stadt zu verhindern. Sie rief die Bürger_innen Calais zum einen dazu auf, Hausbesetzungen und die Aneignung von Räumen bürgerwehrartig zu verhindern. Zum anderen solle, um England unter Druck zu setzen, der örtlichen Hafen blockiert werden. Die Idee, dass die eigentlichen Leidtragenden die unbescholtenen Bürger_innen sind, wird so unterstützt. Vorurteile gegenüber Geflüchteten sowie die Bedrohung der vermeintlichen Sicherheit haben ein öffentlich anerkanntes Podium bekommen. Die Polizei ist die staatliche Gewalt, welche am meisten mit den Migrant_innen „zu tun“ hat. Kontrollen, Verhaftung, Transporte aus der Stadt und gewaltsame Räumungen gehören zum Repertoire. Es zeigt sich auch hier, dass die Politik schlichtweg überfordert ist bzw. es keinen eigentlichen Plan gibt, wie mit der wachsenden Zahl an Menschen umgegangen werden soll. Wenn die besorgten Bürger_innen dann aktiv werden, bedeutet dies keineswegs weniger Gewalt. Aktuell wurden drei Menschen für begangene Brandanschläge auf das Squat verurteilt.
Nazis
Seit einiger Zeit gibt es einen Zusammenschluss besonders besorgter Bürger namens „Sauvons Calais“13. Diese Gruppe um Kevin Reche, ehemaliges Mitglied der rechtsextremen Front National, organisiert über eine Facebook-Gruppe Demonstrationen und Kundgebungen. Die Aufrufe der Gruppe nutzen neonazistische und rassistische Formulierungen und rufen unterschwellig zu Gewalt auf. Unter anderem veröffentlichten sie eine Karte des Squats mit detaillierten Bezeichnungen von Schlafräumen, sanitären Anlagen und so weiter. Im Winter 2013 wurden zwei Migrant_innen angeschossen. Neben kleineren Aktionen, zuletzt am 01.11.2014, Übergriffen und Propagandaaktionen versucht „Sauvons Calais“ derzeit verstärkt, überregional zu mobilisieren. Zu einer Demonstration im September waren es 350 Neonazis aus ganz Frankreich, die gemeinsam mit den Bürger_innen durch Calais laufen konnten.14 Das hier gezeigte Bild ist durchweg faschistoid – man scheut sich nicht, Hitlergrüße und teilweise verbotene Symbole zu präsentieren – und für Frankreich nicht ungewöhnlich mit der Bildsprache der identitären Bewegung durchsetzt.15
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Debatte
Ehrenamtliches Engagement in Calais
In Calais gibt es wenige NGOs und Initiativen engagierter Bürger_innen. Salam gründete sich nach der Schließung des Lagers Sangatte, das bis zu seiner Schließung 2002 vom französischen Roten Kreuz betrieben worden war. Im Moment sorgt die NGO hauptsächlich abends für ein warmes Essen, auch wenn es nie für Alle reicht. Bis zum März 2013 sorgte eine Abspaltung dieser NGO mit dem Namen Belle Etoile für ein Mittagessen, stellte aber ihre Arbeit mit der Begründung ein, dass nicht nur die Freiwilligen total überlastet seien, sondern auch die Ignoranz von öffentlicher Seite nicht mehr mit tragbar sei.16 Nicht nur von Seiten der NoBorder-Aktivist_innen, auch von ehemaligen Freiwilligen wurde immer wieder Kritik an der Art und Weise laut, wie Salam arbeitet. Zentrale Punkte waren dabei die autoritär durchgesetzten Disziplinierungsmaßnahmen bei der Essensausgabe sowie Kollektivbestrafungen bei Nicht-Einhaltung der gesetzten Regeln (sprich: keine weitere Essensausgabe). Erst vor kurzen enthüllte der Sprecher von Salam erneut seine rassistischen Einstellungen, als er Migrant_innen als „zu verwöhnt“ bezeichnete, nachdem diese schlecht gewürztes Essen kritisiert hatten.17 Die Gruppe Reveil voyageur, die hauptsächlich aus Einwohner_innen von Calais besteht, versucht täglich aus Essensspenden ein Frühstück zusammenzutragen und dieses an die Geflüchteten auszugeben. Insgesamt hält sich das Interesse der Calaiser_innen an der Situation der Geflüchteten eher in Grenzen. Zu den wenigen Engagierten in den NGOs kommen eine Handvoll Bäckereien und Metzgereien, die immer wieder Lebensmittel spenden.
In gewisser Weise sind auch die NoBorder-Aktivist_innen im Kontext dieses, wenn auch geringen, ehrenamtlichen Engagements zu sehen. Die grundlegende medizinische, sanitäre und humanitäre Versorgung, also auch Unterkünfte und Mahlzeiten, sind eigentlich Teil der Aufgaben, welche der Staat gegenüber den Geflüchteten leisten müsste. Der Gedanke, die Forderung nach dieser Grundversorgung seien in erster Linie an den Staat zu richten wäre rein rechtlich gesprochen korrekt. Vor dem Hintergrund eines emanzipatorischen Selbstverständnisses mutet es aber seltsam an, gerade hier auf staatliche Hilfen zu setzen. So entsteht die paradoxe Situation, dass Aktivist_innen, zu denen auch wir uns zählen, staatliche Aufgaben übernehmen und das Ausbleiben humanitärer Hilfe und gesamtgesellschaftlicher Solidarität durch unbezahlte und ehrenamtliche Tätigkeit ausgleichen. Zugleich kann diese strukturell absurde Situation niemals der Grund dafür sein, den Geflüchteten in Calais aktive und direkte Solidarität zu verweigern.
Selbstorganisation der Geflüchteten
Wie eine emanzipatorische, unterstützende und bestärkende Arbeit in Calais funktionieren kann, welche eine Selbstorganisation der Geflüchteten unterstützt ist eine konstante Frage. Seit Jahren versuchen Aktivist_innen und einige der Geflüchteten, so etwas wie stabile Strukturen zu etablieren. Die Schwierigkeiten – welche dies erschweren – sind unterschiedlich geartet. Zunächst wird eine anhaltende Organisation grundlegend durch die Tatsache erschwert, dass die meisten Geflüchteten einfach so schnell wie möglich Calais verlassen wollen. Alle verfügbare Energie wird darauf verwendet, die Reise nach England fort zu setzen. Das Interesse an einer kontinuierlichen Struktur, welche gemeinsame Entscheidungen, das Verteilen von Essen und eine einfache Infrastruktur möglich machen würden, stehen wider der Möglichkeit, jede Nacht den Kanal zu überqueren. Um heute Nacht gestärkt zu sein, ist das Essen genau jetzt nötig. Die Frage nach dem Morgen und Übermorgen ist dabei weniger wichtig. Während unserer Zeit in Calais erlebten wir die Phase eines (weiteren?) Versuchs, im Squat ein Komitee zu etablieren, welches legitimierte Entscheidungen fällen und klare Verantwortlichkeiten – z.B. für die Essensverteilung – ermöglichen sollte. Es bestand aus zehn gewählten Vertretern. Auf einem Plenum jedoch wurde klar, dass erstens einige mit ihrer Aufgabe überfordert waren, da sie z.B. persönlich verantwortlich gemacht wurden, wenn es kein (oder nicht das gewünschte) Essen gab. Zweitens war nicht klar, wer von den zehn Menschen – weniger als die Hälfte von ihnen war anwesend – sich überhaupt noch in Calais aufhielt. Wichtig zu sagen ist noch, dass es einigen Geflüchteten – trotz der genannten Umstände, die das eigentlich gar nicht zulassen – trotzdem wichtig ist, sich bzw. die Gesamtsituation zu organisieren. Sie – in den Kurzzeit-Communities oftmals angesehenere Leute – versuchen, das Ganze im Blick zu haben und irgendwie koordinierend oder befriedend tätig zu werden. Sie machten uns klar, dass es bspw. ohne eine Warteschlange bei der Essensausgabe nicht ginge und halfen uns, diese durchzusetzen. Bei dem Vorhaben, das Essen zu verteilen, wurden wir maßgeblich von ihnen unterstützt.
Großbritannien = Utopia?
Fragt man die Migrant_innen nach ihrer Motivation für die gefährlichen und meist vergeblichen Versuche, über den Ärmelkanal zu gelangen, wird fast immer die bessere Lebenssituation für Geflüchtete in Großbritannien als Hauptgrund genannt. Darunter fällt für sie oft nicht nur das Asylrecht und seine Anwendung in der Rechtspraxis sowie die humanitäre Versorgung, sondern auch der Umgang der Gesamtgesellschaft mit Migrant_innen. Auch rechte Politiker_innen auf beiden Seiten der Grenze kritisieren immer wieder den vermeintlich zu einladenden Umgang mit Refugees in GB als Ursache für die dramatische Lage in Calais und fordern Verschärfungen im britischen Asylrecht.
Sowohl um den Migrant_innen eine realistische Einschätzung ihrer Möglichkeiten und Aussichten zu geben, als auch um rechte Argumentationen zu entkräften, bemühen sich Aktivist_innen um Aufklärung der verbreitete Mythen und valide Fakten. Bei nüchterner Betrachtung lassen sich einige wahre Aspekte hinter den Ansichten über die Situation in Großbritannien feststellen:
In GB gibt es, anders als in den meisten europäischen Staaten, keine Ausweispflicht. Aufgrund der Kolonialgeschichte des britischen Empires fallen Mirgant_innen weniger auf und Racial Profiling ist weniger verbreitet als in Frankreich und Deutschland.
Ebenso ist es auch ohne abgeschlossenes Asylverfahren möglich, eine Sozialversicherungsnummer zu beantragen und damit Zugang zum steuerfinanzierten Gesundheitssystem zu erhalten. Auch ist der Schulbesuch für Kinder von illegalisierten Migrant_innen einfacher möglich als beispielsweise in Frankreich.
Die tatsächlichen Vorteile werden oft ausgeschmückt und glorifiziert. Sprachbarrieren und die Schwierigkeiten, an gut verständliche Informationen zu gelangen, fördern die Mystifizierung Großbritanniens. So wird in Gesprächen häufig die Auffassung vertreten, man würde in Hotelzimmern untergebracht. Ebenso kursiert die Vorstellung, man bekäme direkt nach der Asylantragstellung Bargeld ausgehändigt. Man könne auch sofort entweder einen Sprachkurs besuchen oder direkt arbeiten gehen, so eine weitere stark verbreitete Fehlinformation. Teilweise wird sogar behauptet, in England gäbe es keinen Rassismus, was den Erfahrungen derjenigen, denen der Weg über den Ärmelkanal gelungen ist, eklatant widerspricht.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Informationslage bei den Geflüchteten selbst häufig schlecht ist – auch was die Gesetzeslage in anderen Ländern betrifft. Das hängt nicht nur mit dem ungenügenden Zugang zu Informationsquellen, wie beispielsweise Internet und fehlenden mehrsprachigen Inhalten zusammen. So verteilen Teams der Immigrationsbehörde in den Jungles regelmäßig Flyer zum Asylverfahren in Frankreich. Dies passiert allerdings unter Begleitung der Polizei, welche sonst die Privatsphäre der Geflüchteten permanent überschreitet. Dass den so verteilten Informationen nicht vertraut wird, ist leicht nachvollziehbar. Ein weiterer Grund, warum die Migrant_innen mündlich verbreiteten Informationen mehr Glauben schenken als offiziellen Verlautbarungen ist die Tatsache, dass Theorie und Realität im Asylrecht viel zu oft stark auseinander klaffen: Gesetzliche Ansprüche sind schwierig durchzusetzen, bei Behördengängen erfolgt keine ausreichende Unterstützung. So führt die schlechte Informationslage in Verbindung mit fehlenden Möglichkeiten zur juristischen Auseinandersetzung zur Ablehnung der Anträge.
Nicht zuletzt muss wohl auch anerkannt werden, dass die teilweise überzogenen Erwartungen den Migrant_innen als Motivation und letzter Hoffnungsanker dienen. Allein deshalb werden sie wohl nur zögerlich hinterfragt.
Forderungen und Veränderungen
Die Stadt Calais zählt um die 72.000 Einwohner_innen. Derzeit sind es 2500 Geflüchtete, die dort notdüftigst unterkommen. Sie sind Teil des Stadtbildes und des täglichen Lebens geworden und dennoch unsichtbar. Jenseits den oben genannten rechtsradikalen Ausschreitungen gibt es wenig sichtbare Reaktionen. Den ehrenamtlichen Gruppen fehlen Helfer_innen. Es ist erstaunlich, wie schnell es möglich ist, sich an das offensichtliche Leid zu gewöhnen. Die Forderung an jede_n Einzelne_n wäre es, nicht mit Ignoranz zu reagieren und die Missstände in der Gewohnheit verschwinden zu lassen. Diese Forderung wird keineswegs nur in Calais thematisiert. Auch in deutschen Städten ist der Umgang mit Geflüchteten, wie es die aktuellen Nachrichten aus diversen Bundesländern zeigen, zunehmend problematisch. Auch wenn klar ist, dass die Hilfsmaßnahmen von offizieller Seite kommen müssten, entbindet dies die Individuen nicht von einem menschlichen Umgang mit dem Gegenüber. Insbesondere in Situationen wie der in Calais geschieht es schnell, dass von „uns“ und „denen“ gesprochen wird. Vereinheitlichung, Exklusion und Endindividualisierung machen die Geflüchteten zu einer Masse und sind Basis für Angst und Rassismus.
Auf politischer Ebene können die Forderungen nicht damit enden, dass sich bessere Übergangslösungen für die Geflüchteten finden. Die Situation in Calais ist nur ein Symptom von restriktiven Asylgesetzen, Grenzen und immer noch kolonialen Machtstrukturen. Jegliche Aktivität an Orten wie Calais muss mit der Forderung einhergehen, die Asylgesetze, wie sie aktuell existieren, abzuschaffen. Andererseits müssen auch die sozio-ökonomischen und politischen Ursachen für prekäre und illegalisierte Migrationsströme in den Herkunftsländern problematisiert werden, was einen Einfluss auf internationale Politiken erfordert. Dass die globale Situation perspektivisch nicht stabiler werden und die Abschottungspolitik zur vermeintlichen Sicherung Europas fatal ist, kann nur einmal mehr wiederholt werden.
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1 „Küche für alle“ – eine Bezeichnung für unkommerzielle, politische Kochgruppen blackwok.noblogs.org
3 Aus dem Persischen: Jangal = Wald, ist die Eigenbezeichnung der Migrant_innen für die Grünflächen, auf denen größere Menschengruppen improvisierte Unterschlüpfe aus Planen, Zelte und Bretterverschläge errichtet haben.
4 Aufstandsbekämpfungseinheit der französischen Police Nationale: Compagnies Républicaines de Sécurité
5 eine Anspielung auf die Kriegsgefangenenlager im 1. Weltkrieg
6 engl. für besetztes Gebäude
7 Permanence d’Accès aux Soins de Santé (dt.: Zugang zum Bereitschaftsdiensts des Gesundheitswesens)
8 dt. Ärzte ohne Grenzen
9 Die französische Caritas
10 Die NGO gründete sich 2002 nach der Schließung des Rote-Kreuz-Zentrums (www.associationsalam.org)
11 Wiederum eine Abspaltung der Gruppe Salam (lereveilvoyageur.wordpress.com)
12 Eine international aktive, christlich motivierte NGO, die Hilfe zur Selbsthilfe anbietet und unabhängig von staatlichen Zuschüssen arbeitet. Die Idee ist es den Abfall der Gesellschaft – von Nahrungsmittel bis zu Möblen, weiter zu verwerten.
13 dt.:“Retten wir Calais.“ (sauvonscalais.wordpress.com)
16 „We will play the role of accompanying migrants. As we do, no one else cares to do so. We express that we are fed up in this situation that is never ending. The authorities act as if everything is fine! No, nothing is! We need the government to find the necessary finances. Namely give true and real local food for everyone. What we have at the moment is inhuman.“(http://calaismigrantsolidarity.wordpress.com/2013/03/02/belle-etoile-stop-food-distribution/)